Täglich eine ganze Stunde lang der Welt den Mittelfinger zeigen
"Hallo, ich heiße Thomas – und ich bin süchtig." – "HALLO THOMAS!"
Die bunte Social-Media-Welt hat mich in ihren Bann gezogen wie LSD einst den jungen Brian Wilson. Aber nicht nur SM, sondern auch mein Smartphone im Allgemeinen, in seiner anmutenden einfach schlichten Schönheit, buhlt mit Gewalt um meine Aufmerksamkeit – und das mit Erfolg. Andauernd dieses zwanghafte Draufgeglotze in freudiger Erwartung, dass gleich irgendwas total Tolles passiert, einfach schrecklich. Dabei nehme ich schon gar keine Anrufe mehr entgegen. Wer wirklich was von mir will, soll eine E-Mail schreiben. Trotzdem fühle ich mich irgendwie ausgeliefert – aber an wen oder an was? Ich kenne die Antwort: An mich selbst!
Ja gut, mit dieser kleinen Selbsterkenntnis sollte sich doch was anfangen lassen. Was kann ich tun? So richtig leiden will ich nicht – und so ein kalter Entzug kann ja nicht gesund sein. Kürzlich habe ich ein Video gesehen, das Thema war "Leben ohne Smartphone". Viel zu krass und übertrieben – zumindest für meine Befindlichkeiten, denn so ganz ohne, das geht mir zu weit.
Dann ging alles ganz schnell und auch irgendwie von selbst. Tatort: Meine Wohnung, Uhrzeit: 17:30 Uhr. Smartphone aus, Laptop runterfahren, Fernseher aus. Totenstille. Eindringlich und wundervoll. Bereits nach sieben Sekunden eroberte die Göttin Pasithea mein komplettes Inneres. Ich fühlte mich einfach frei, entspannt und völlig ausgeglichen.
Ich schlenderte gemütlich durch meine Wohnung und sah mich in einer Art und Weise um, als ob ich mein Zuhause zum ersten Mal sehen würde. Neugierig schaute ich mich um und betrachtete meine vertraute Umgebung aus ganz neuen Blickwinkeln. Ich kletterte auf einen Stuhl, denn aus dieser Perspektive hatte ich meine Wohnung noch nie gesehen. Womit kann ich mich beschäftigen? Es soll auf jeden Fall offline sein. Hm, allein schon, dass ich den Begriff offline als Verb verwende zeigt, dass da irgendwas nicht stimmt (bei mir).
Beim Durchstöbern meines eigenen Hausrats sind mir ein paar Dinge aufgefallen, die ich schon lange nicht mehr benutzt hatte:
Diesen ganzen Kram legte ich auf meinen Schreibtisch. Ich nahm jedes Teil in die Hand und betrachtete genau dessen Beschaffenheit. Haptik, Gewicht, Geruch – nahm ich alles ganz intensiv und ungestört wahr. Und dann wurde es ganz verrückt: Warum all diese Dinge nicht einfach benutzen? Ich war doch eh offline – und es waren schon ganze 30 Minuten vergangen (ich stand zuvor wirklich lange auf dem Stuhl).
Also legte ich die Help auf den Plattenteller, stellte die Lautstärke auf nicht so laut, blätterte ein wenig in meinen alten Notizheften und sah mir meinen alten Kalender an. Diese kleinen Hefte fühlen sich gut an, das Papier ist schon etwas besonderes, kein alltägliches Geschäftspapier. Da nehme ich doch mal meinen Füller, und kritzle ein bisschen herum. Schön, wie die Tinte aus der Feder fließt und auf dem cremefarbenen Papier wie in Zeitlupe trocknet. Totale Entspannung – außerdem macht es Spaß, mit Tinte zu schreiben. Ich erwische mich dabei, wie ich einen Termin im Kalender eintrage. Der Typ ist ein Blödmann, bei dem musst du aufpassen, füge ich hinzu. Oh, hier ist ja noch ein ganz neues Heft, da schreibe ich gleich ein paar Zeilen hinein – nur so ein paar Gedanken. Nichts besonderes, nur das, was mir gerade durch den Kopf geht.
Seite 1 der Help war vorbei. Dann passierte das Unfassbare: Es blieb still, einfach nur still! Mein Plattenspieler spielte nicht ungefragt irgendwelche Lieder, von denen er meinen würde, dass sie mir gefallen. Nein, das Gerät machte einfach gar nichts. Panisch beobachtete ich meinen Plattenschrank: Nichts bewegte sich. Keine neuen Platten wurden meiner Sammlung wie von Geisterhand hinzugefügt. Mein Plattenschrank blieb einfach so, wie ich ihn mit eigenen Händen zusammengestellt hatte. Auch hatte der Schrank die Platten nicht in eine andere Reihenfolge gebracht.
Diese Situation war mir völlig fremd. Schließlich war ich es gewohnt, dass meine Musik-App ungefragt Alben zur Mediathek hinzufügte und angeblich zu mir passende Titel abspielte, sobald ich eine Playlist eigentlich zu Ende gehört hatte. Ja, ich hatte die App in den Einstellungen so konfiguriert, dass sie Derartiges nicht tun solle – das klappte hin und wieder, aber nicht sehr oft.
Ich legte Seite 2 auf und begann, weitere kleine Notizen in mein Heft zu schreiben. Ich erstellte eine kleine Arschloch-Rangliste mit Personen, denen ich in meinem Leben begegnet war. Das hat Spaß gemacht, au ja! Wie spät ist es eigentlich? O.K., das Display des Smartphones kurz antippen und schon – ach nee, ist ja aus das Ding. Hab ich hier tatsächlich keine andere Uhr? Muss ich jetzt wirklich extra in die Küche und die Zeit in von der Mikrowellen-Uhr ablesen?
Toll, das Display zeigt blinkend 12:00 Uhr. Na ja, wenn ich schon mal hier bin, kann ich den Einkaufszettel ergänzen: Uhr für das Wohnzimmer kaufen. Ach, was solls: Uhr für's Handgelenk kaufen. So, wieder ein Schritt weg von der Abhängigkeit zum Smartphone. Trotzdem muss ich es einschalten, ich will wissen, wie spät es ist.
Oha, 18:30 Uhr, meine erste netzfreie Stunde! Mal sehen, was ich in der letzten Stunde verpasst habe. Ein pinkelnder Affe, der seinen eigenen Urin schlabbert und ein dutzend Hinweise, dass bei Insta irgendwer irgendwas kommentiert hat. Was noch? Ah, eine E-Mail von Max M. – unwichtig, kann warten. Ach, der kann ebenfalls auf meine neue Arschloch-Liste.
Kommen wir zum Ende:
Die netzfreie Stunde gibt's bei mir seit 2021 täglich – zusätzlich zu meiner festgelegten Ruhezeit (20:00 bis 08:00 Uhr). Damit bin ich glücklich. Jetzt kann ich ganz ich selbst sein – und befriedige trotzdem mein inneres Schwein.
CC-BY info: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de
© Thomas Mildner-Rotermund, shockshit.de
Link zum Artikel: https://www.shockshit.de/2023/09/19/netzfreie-stunde-alles-offline/
Um Einhaltung der Creative Commons Richtlinien wird gebeten.
Passend zu diesem Artikel: Mach doch Deinen Kalender zusätzlich offline – mit den kleinen praktischen Notizheften von Berlin Notebook, die ich selbst ziemlich geil finde. Hier her!
Lassen sich auch offline lesen: Die Abenteuer der Blackfin Boys:
Ente 31 (Dienstag, 12 November 2024 15:06)
Ich habe schon seit ein paar Jahren mein Handy auf lautlos, was Telefonanrufe betrifft. Kann ich nur jedem empfehlen, der nicht genervt werden will.
Hanno (Donnerstag, 19 September 2024 08:24)
In letzter Zeit schalte ich mein Handy immer öfter ab und ich merke, dass mir das gut tut. Ich stelle auch fest, dass ich in dieser Offline-Zeit nichts verpasse.
Psychologie Heute (Freitag, 21 Juni 2024 15:49)
Ich mach hier einfach mal Werbung für diese Zeitschrift. Da stehen viele solcher Situationen drin.
Grüße aus Hamburg
Michael
Gerd (Samstag, 03 Februar 2024 09:55)
Guter Ansatz. Ich bin schon seit Jahren Abonnent der Zeitschrift "Psychologie Heute". Sobald die neue Ausgabe kommt, gehe ich auch komplett offline und trinke dazu einen schönen schweren Roten. Man muss nicht ständig erreichbar sein. Was ich noch als Tipp geben kann: Wenn man bei Social Media angemeldet ist, nicht die App auf das Smartphone installieren, sondern 1 x pro Tag am Desktop PC reinschauen. Bringt auch schon viel Ruhe mit sich.